Der erlauchteste Spinner und Weber

ALBERT VIGOLEIS THELEN wurde am 28.9.1903 in Süchteln geboren und schrieb 1927 als ersten literarischen Text das „Süchtelner Stadtlied“. 1929 begann er, kleinere Erzähltexte zu veröffentlichen, doch der aufkeimende Nationalsozialismus vertrieb Thelen aus Deutschland, sodass er mit seiner späteren Frau, der Schweizerin Beatrice Bruckner, von 1931 bis 1936 auf Mallorca im Exil lebte. Hier schrieb er unter anderem einen satirischen Roman über das Dritte Reich ( Hünengräber ohne Hünen ), der jedoch nach Ausbruch des Spanischen Bürgerkrieges, wie viele andere seiner Werke, auf der Flucht vernichtet werden musste. Er flüchtete in die Schweiz und 1939 nach Portugal, wo er bis 1947 auf dem Weingut des portugiesischen Mystikers Teixeira de Pascoaes ein sicheres Exil fand. Thelen, der von 1947 bis 1954 in Amsterdam und von 1954 bis 1986 in der Schweiz lebte, zählt insbesondere mit seinem Hauptwerk, dem Mallorca-Roman „Die Insel des zweiten Gesichts“, für den er 1954 in Berlin den Fontane-Preis erhielt, zu den wichtigsten deutschen Erzählern der Nachkriegszeit. 1984 verlieh man ihm den Professorentitel des Landes Nordrhein- Westfalen und 1985 das Bundesverdienstkreuz. Stets hatte sich Thelen als „niemandes Landsmann“ bezeichnet, dennoch siedelte er 1986 in den Nachbarort seiner Geburtsstadt Süchteln um. „Don Vigo“ verstarb am 9.4.1989.

Der „nationale Dummkopf“ AVT 1937 in der Schweiz

An dieser Stelle könnten unendlich viele Zitate und Textauszüge aus Vigoleis’ Schriften folgen ( alle wären es wert hier aufgeführt zu werden ! ) aber lassen wir lieber jemanden „über Vigo“ zu Wort kommen, der es wie kaum ein anderer versteht, die Dinge auf vigoleis’sche Art beim Namen zu umschreiben ( die folgenden Textpassagen entstammen dem in Süchteln spielenden Szene-Roman
„Dealer Wallfahrt“ von Dr. Paul Eßer ):

 >Du findest die „Insel“ langweilig und anstrengend. Nach ein paar Seiten hast du aufgegeben. Versuch es noch mal, es lohnt sich! Ich leg sie dir vor die Tür. Keiner hatte damals so viel auf dem Kasten wie Vigoleis. Der ging oft hier spazieren. Hier, wo wir herumhängen: Niersland, früher La Mancha des großen Webers. Von hier hat er vor neunzig Jahren die Nachfolge des Windmühlenkämpfers angetreten, wortgestiefelt und gespornt, die Feder eingelegt, der Ritter mit dem Rade, Vigalois, seinem spanischen Ahnherren nachabenteuernd auf seiner Ausfahrt nach Süden, verkannt wie jener, von sturen Raubritterkreuzträgern aus seinen Heimaten gejagt, barocker Spielmann der Sprache, der seine tausendseitigen traurigen Epen durchsetzte mit wunderbaren Anarchismen, mit Schöpfungen wie Besage, Gebrest, Küpe, Sponde, Plaute, Plotz und Pracherer hantierte und der, in einem Zwischenstromreich aufgewachsen, einer uferlosen Fabulierkunst freien Lauf ließ, akademischer Fachsprache abhold seinen „Kaktusstil“ schmunzelnd verteidigte, bei dem sich unverhofft Ableger bilden, ins Wilde hinein schießen, einer der letzten Literaten, der seine Schreibe auch lebte, Quijote und Pansa und Cervantes in einer Figur, nicht Schriftsteller, sondern Dichter, letzter Poet, Luftschiffer Ginozzo, Ahab und Ahasver, letzte Goldgravur auf der Ahnentafel eines vagabundierenden Wahns, schnörkelreich beschließend die Liste der Schrägflieger, der genialen Galgenvögel und Streicher des Landes, der Villons und Bellmans, denen zum Schluß noch der delirierende Dylan Thomas nachfuhr, weiß Gott wohin. Weiß Gott, wohin ?<


>Immer war sein Kopf woanders als seine Füße, wenn er den schmalen Graspfad am Flussufer entlang wanderte, war wohl in den Wolken, aber nur, weil die Wolken immer so niedrig hingen hier in den Wiesen zur Nachtzeit. Nie mehr zum Fluss! hatte er sich geschworen, nicht in den einsamen Nächten, wenn in den Niederungen ein weißer Nebel weht und in Därmen und Hirn die heißen Schwaden aus Sehnsucht und Gerstengärung aufsteigen, wenn wabernde Gewächse vor dem Auge zerfließen und zusammenschießen, und plötzlich unter all dem Bildergeschlinge das bebrillte, stirnglatzige Haupt des großen Sehers und Maulwurfs Albert Vigoleis Thelen sich konturiert und sein untersetzter Körper knorrige, gestutzte Gestalt annimmt.<

AVT 1989 - Zeichnung von Peter K. Kirchhoff

>Hast mir beigestanden in der Zeit der jugendlichen Geisteswehen, jetzt geh, bleib mir vom Leib! Keine Vorhaltungen mehr! Bin selbst am Ende. Kriech mir nicht mit der Kühle zugleich in die Knochen, dein Knollennasenkonterfei im Korbweidenkopf schreckt mir wieder und wieder in den Sinn, was ich herausschwemmen will, deine Tränensäcke wie Moosbeete, so schwer unter die Augen geschichtet, so schwer von den Resten der Geschichte, die mich bedrohen wie dich, deine Mundwinkel, heruntergezogen auf den Horizont der Nacht in Krämerpackverachtung und Heimwehgrimmen, in Hass-Liebe-Sehnsucht nach dem Urstromtal im Windschatten der grünen Endmoräne.

Dein zweites Gesicht, gesponnen gegen eine Welt von Zweitgesichtern, hat als südlich blaue Fluchtinsel immer nur deine älteste Schatzinsel überformt, dein fremdvertrautes Atoll, vor dem dein Mythenboot einst schaukelte, auf dem deine Aufbrüche ins Ungeahnte begannen und endeten, auf Sand liefen schließlich, als dein Ende gültig, das Alter deinen Wahrmund mausemundtot zwang, deiner unsättigen Wahrwut die Sprache verschlug, als auch des Parazelsus’ Heil- und Scheidekünste den schwarzen Herrn nicht mehr aufzuhalten vermochten und die Reise endete, wo sie begann.
Eine Flucht von Süchteln nach Süchteln.<

( aus Paul Eßer: Dealer Wallfahrt erschienen 1999 im Avlos Verlag - Linz am Rhein )

 

Die letzten Worte hier soll abschließend Professor Vigoleis persönlich haben:

( Aus den Büchern von Albert Vigoleis Thelen )

“...ich war so an die 23 jahre alt, als der ruf an mich erging für die vaterstadt eine hymne zu dichten: eines nachts kam mein vater vom stammtisch nach hause und warf noch einen blick zu mir ins zimmer, wo ich wie allnächtlich über meinen büchern und blättern hockte. ...der bürgermeister der stadt habe sich an ihn herangemacht und ihn gefragt, ob er glaube, dass sein sohn albert - in dem der vigoleis bereits zu kielen begonnen - ihm ein lied dichten könne, das die vaterstadt preise und singbar sei. ...

ich überprüfte die lage. die vaterstadt liegt ...eingebettet zwischen der niers und einem bewaldeten höhenzuge, in allen besseren handbüchern der geographie »süchtelner höhen« genannt. eine ortsheilige hat daselbst berühmtheit erlangt, sie heißt irmgardis und ist hagiographisch durch die bollandisten anerkannt. seit alters gedeiht auf süchtelner boden die mohrrübe. sie hat den namen der stadt in alle welt getragen. wie madeira die ananas, hat das kempenerland seinen kappes, im baselbiet die schönste kirsche auf erden blüht, schwetzingen den besten spargel der welt schießen lässt, so hatte mein süchteln die köstliche möhre zur weltfruchtgeltung erhoben. ...

der sohn des hauses dichtet für die stadt! alles vollzog sich wie unter dem zauberbann von initiationsriten, ich kam mir vor wie jemand, der in eine mysteriengemeinschaft aufgenommen worden war. gewissermaßen war ich poetisch mannbar geworden, man blickte auf mich, und alles wartete auf die inkarnation. ...wie lange ich über die verse gebrütet habe, weiß ich nicht mehr. eine woche, zwei, wenige tage, einen vollen monat? auf einmal trat der gott in mich und ich trat aus mir heraus mit dem fertigen lied. es umfasste vier strophen. ...

der bürgermeister empfing mich kühl, er war nicht aufgeschlossener als bei der ersten begegnung. ich reichte ihm das gedicht. die prüfung begann. was alles zur sprache kam, weiß ich längst nicht mehr, nur an zwei tatsachen erinnere ich mich deutlich: ich wurde nicht gebeten platz zu nehmen. prüfungen werden ja auch meist stehend abgenommen. und ich hätte eine strophe zuviel geschrieben. die möhrenverherrlichung müsse wegfallen, möhrensamen sei nicht mehr führend im süchtelner stadtbild.

habe ich leichten herzens verzichtet? die strophe selbst ist längst meinem gedächtnis entfallen, so daß ich mit bestimmtheit sagen kann, sie war das beste im ganzen lied. ...ich ließ den text auf dem schreibtisch des mächtigen zurück und verließ sehr erhoben hauptes das rathaus. ...

hinter den gardinen wimmelte es von gestalten. die ganze familie sah meinem kommen mit spannung entgegen: ob er wohl das dichterische stadt-examen bestanden hat? ...die worte des liedes rührten meine mutter zu tränen; mein vater nickte beifall; meine brüder grinsten. vor allem musste ich ihren spott einstecken über den frömmlichen kniefall, den ich, der gottlose ohne bild und zeichen, vor der ortsheiligen getan. mich bekümmerte das wenig, ...“

’Meine Heimat bin ich selbst!’

Eine ausführliche Biographie und Bibliographie AVT’s finden Sie auf www.Vigoleis.de

oder lesen Sie Beiträge von bzw. über AVT, die im Muschelhaufen erschienen sind.

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