Die Niers bei Süchteln

Zwischen den Nordausläufern der Eifel im Westen und den Erhebungen des Bergischen Landes im Osten war in der Tertiärzeit eine große, dreieckig gestaltete Scholle eingebrochen. In die so entstandene Bucht ergoß sich von Norden her das Meer, staute sich an den stehengebliebenen Rändern und nahm bei dem heutigen Bad Godesberg die Fluten eines Gewässers auf, aus dem sich der jetzige Rhein bildete. Als das Meer durch Hebung des Bodens allmählich zurückwich, schufen Rhein und Maas sich ihren Ausfluß in vielgestaltigen Verzweigungen, die teilweise heute noch erkennbar sind. Einer der Rheinarme dieser Zeit zweigte bei Neuß vom Hauptstrome ab, floß über Mönchengladbach, Viersen und Süchteln den hier sich erstreckenden Höhenzug entlang und vereinigte sich an der Stelle der jetzigen Niersmündung mit der Maas. In diesem alten Rheinbette fließt heute die Niers.

Rhein und Maas haben bis in unsere Zeit an der Gestaltung unseres Heimatbodens mitgewirkt. Während der Eiszeit wurden sie durch den Abfluß gewaltiger Schmelzwasser wiederholt gezwungen, ihre Stromrinnen zu verlegen und gerieten schließlich in den Zustand vollständiger Versumpfung. So wurde die hiesige Gegend ein schier endloses mooriges Bruchgelände, mit vielen Sümpfen und Wasserarmen. Daher auch der keltische Beiname unserer Heimat „Mülgau“ ( 1123 - Villa Suphtele in pago Muliensi ), wonach „mul“, „mel“ wie auch „mol“, eine Bezeichnung für Wasser ist ( „ Stadt Süchteln im Wassergau“ ). Die Niers und ihre vielen Wasserläufe waren schon von jeher für die Süchtelner Bevölkerung von großer Bedeutung. So wird noch aus der französischen Besatzungszeit berichtet, daß Süchtelner die Truppen Napoleons durch die Sümpfe der Bruchlandschaft führen mußten und schon 60 Jahre zuvor, um das Jahr 1747 werden 2 spätmittelalterliche Fähren ( die große und die kleine Fehr ) erwähnt, die in Kanälen das versumpfte Nierstal durchquerten und Süchteln mit der Straße nach Neuss verbanden.

Bis ins 19. Jahrhundert bot die sich durch das alte Rheintal schlängelnde Niers mit ihren vielen Seitenarmen und Auen für manche Tier- und Pflanzenart eine ideale Heimat. Alte botanische Aufzeichnungen nennen u.a.: gelbe Sumpfdotterblumen, weiße Margueriten, rote Taglichtnelken, Bärenklau, blaßrotes und lilafarbenes Wiesenschaumkraut, rote Kuckucksblumen, hellrote Natterwurz, fleischfarbene und gefleckte Knabenkraut-Orchideen, rosarote Schwanenblumen, weiße Schlangenwurz, rotweißen Fieberklee, Schwertlilien, Igelkolben, blutroten Blutweiderich, gelben Gilbweiderich, Hahnenfuß, Cypergras, dunkelrotes Sumpfblutauge und Sumpfprimeln.

Um das Jahr 1600 bieten örtliche Kaufleute auf den beiden überregional bedeutsamen Jahrmärkten, die seit 1423 in Süchteln abgehalten werden, als Spezialitäten unter anderem auch die heimischen Flußkrebse und Süßwasserfische an. Ebenso findet man in der Korrespondenz des Preußenkönigs Friedrich II. ( 1712 - 1786 ), der äußerst selten persönliches in seinen Briefen erwähnte, eine Passage, in der er den Genuß von vorzüglichen Niersaalen erwähnt. Um das Jahr 1880 war der Fischfang in Süchteln so rege, daß man oft in der Fangzeit jede Woche hundert Pfund Fische nach Kempen brachte. Darunter waren unter anderem prächtige Barsche, Schleien, Bresen und hervorragende Hechte. Schließlich werden Ende des 19. Jahrhunderts sogar Niersaale in den noblen Pariser Restaurants sowie im bekannten Berliner Hotel Adlon als Delikatesse auf den Speisekarten als “Anguilles de la Niers” geführt. Außerdem bot die Nierslandschaft Lebensraum für die unterschiedlichsten Amphibien, wie zum Beispiel Kröten, Frösche, Molche und Salamander und es fanden sich Ringelnattern, Eidechsen, Kreuzottern, Blindschleichen und vereinzelt sogar Sumpfschildkröten. Besondere Erwähnung findet noch die Wacholderdrossel, welche, in spezieller Weise zubereitet, als Krammetsvogel bekannt, ein Gaumenschmaus gewesen sei und deshalb, und der wunderbaren Landschaft wegen, ein ab 1880 für lange Zeit jährlich wiederkehrender Grund für den bekannten Komponisten Johannes Brahms war, die Niers in der nahen Umgebung von Süchteln ( Mülhausen ) zu besuchen und einen Tag an und auf dem schönen Fluße zu genießen.

Nach der Industriealisierung zu Beginn des 20. Jahrhunderts, leiteten immer mehr Betriebe in der Region ihre Abwässer ungeklärt in die Niers, bis daß der Fluß nur noch ein trübes, undurchsichtiges und übelriechendes “Abwasser” war. Das hatte zur Folge, daß alles pflanzliche und tierische Leben im Flussbett erlosch und so die anmutige Bruchlandschaft für alle Zeit zerstört wurde. Seitdem der Lauf der Niers auch noch begradigt wurde und die zahlreichen Mühlenstaue und die vielen Seitenarme verschwanden, fließt sie in einem kanalartigen Bett, rascher als früher, aber mehr unmutig als anmutig.

Heutzutage, durch Klär- und Filteranlagen gereinigt, hat die Wasserqualität der Niers wieder einen Zustand erreicht, der es einigen Tieren und Pflanzen ermöglicht, sich an ihren Ufern heimisch zu fühlen und sich dauerhaft hier niederzulassen.

Blick auf die heute begradigte Niers in Süchteln-Vorst

Dagegen ihr Verlauf bei Süchteln um 1800 ( li. Hagenbroich - re. Sittard )

Als folgende Anzeige am 25. Mai 1887 in der Viersener Zeitung erschien, war das Wettschwimmen in der Niers eine der beliebtesten Sportarten der Süchtelner Jugend.

Bei solchen Wettschwimmen, setzte Bademeister Besau manchmal auch ein Spanferkel in die Niers, das nach einem Startkommando von den Schwimmern verfolgt werden durfte. Mit lautem Hallo ging es hinter der armen Sau her, aber wenn es wirklich einmal einem gelungen war, das kleine strampelnde und quietschende Schweinchen zu greifen, dann rutsche es einem unter Garantie wieder aus den Händen. Denn der Bademeister hatte das Schwein klugerweise stets mit einer dicken Schicht Schmierseife eingefettet und es ist kein Fall bekannt, daß wirklich einmal eine Sau als Siegerpreis ausgehändigt wurde.

Das neu geschaffene Kanal-Bett der Niers in Süchteln um 1935

Der RAD bei Kanalbau-Arbeiten ( im Hintergrund die Holtzmühle ca. 1935 )

Niers in Süchteln um 1935 ( vor dem Durchstich aufgenommen )

Dr. Paul Eßer über die Niers ( Aus seinem Szene-Roman „Dealer Wallfahrt“ ):

 Den Landgewinnern des Dritten Reiches war der Fluss als natürlicher Feind erschienen. Zur schnurgeraden Kloake hatten die Fanatiker des Geometrischen ihn meloriert. Sie hatten, ihrer tiefsitzenden Feindschaft gegen alles Mäandernde, Ausufernde, unkontrolliert Lebendige nachgebend, das natürliche Bett des Wasserlaufs geschändet, ihm einen Neubau mitten durch die Wiesen verordnet und höhnisch alle Warnungen von Naturfreunden in den Wind geschlagen.

Die Niers in Süchteln im Herbst 2002

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