Freiballonabsturz 1894 in Süchteln

In der Frühe des 17. Mai 1894, als ein Bauer in Dornbusch seinen Hof betrat, um die übliche Tagesarbeit zu beginnen, vernahm er in der Morgenstille ein klägliches Stöhnen und Wimmern, das seine Ursache unweit des Hauses haben musste. Nach kurzem Suchen fand er auf seinem Acker einen Schwerverletzten und neben ihm noch einen anderen Mann, der fest und unbekümmert schlief, außerdem in der Nähe die Hülle eines nur halbentleerten Ballons. Nachdem der Bauer dem verwundeten die Schuhe aufgeschnitten hatte, wobei sich zeigte, dass beide Beine erheblich versehrt waren, veranlasste er, dass schnellstens Dr. Schwienhorst aus Süchteln herbeigerufen wurde, der dem Verletzten einen Notverband anlegte und ihn unverzüglich ins Krankenhaus schaffen ließ.

 Noch am gleichen Morgen nahm Dr. Schwienhorst, unterstützt von dem Arzt
Dr. Doetsch, eine Operation vor, wobei sich herausstellte, dass die Verwundungen wesentlich schlimmer waren, als man bisher schon erkannt hatte. Nicht nur, dass das linke Bein unterhalb des Knies gebrochen war, sondern ganz erschreckend sah der Fuß aus, von dem mehrere Knochen durch die Haut gedrungen waren, die entfernt werden mussten. Das rechte Bein war zwar nicht gebrochen, aber doch stark in Mitleidenschaft gezogen worden. Der so übel Zugerichtete war der Lebens- mittelhändler Winand Kleesch aus Köln. Es war das schlimmste zu befürchten, da er durch das stundenlange Liegen in der Nacht auf freiem Feld auch viel Blut verloren hatte, weshalb ein Priester ihm die Letzte Ölung spendete. Immerhin schien eine Verlegung nach Köln vor Ablauf von sechs oder acht Wochen unmöglich.

 Über das, was vorausgegangen war, äußerte sich Kleesch, dass er gegen 11 Uhr am Vorabend des Unglückstages mit dem Ballonführer Ferell in Köln aufgestiegen sei. Einen Anker habe man nicht mitgenommen, sondern lediglich zwei Sack Ballast, die der Pilot Rick aus Köln-Mühlheim, der bei der Abfahrt zugegen war, noch im letzten Augenblick in die Gondel geworfen hatte, worüber Ferell ihn in gröbster Weise anfuhr. Der Ballon wandte sich nach Nordwesten und die Fahrt ging lange gut vonstatten. Unterwegs sprach Ferell eifrig einer Flasche Kognak zu, und als Kleesch ihm das Gläschen fortnahm und in die Tasche steckte, setzte er die Flasche einfach an den Mund, was er sooft wiederholte, bis der letzte Tropfen durch seine Kehle geflossen war. Dann hockte er sich in eine Ecke der Gondel und schlief ein.

 Über das traurige Ende der Fahrt berichtete Kleesch: „Der Ballon stieg höher und höher und in den oberen  Luftschichten war es empfindlich kalt. Zudem geriet der Ballon durch Windstöße ins Schwanken. Ich weckte deshalb Ferell, der sogleich das Ventil zog. Weil das Gas sehr rasch entströmte, sank der Ballon beängstigend schnell, worauf ich Ferell aufmerksam machte. Da ich schon früher an sechs Freiballonfahrten teilgenommen habe, war mir nicht fremd, dass man ein rapides Sinken durch Abwurf von Ballast hemmen kann. In dem Augenblick aber, als ich mich bückte, um einen der beiden Säcke aufzuheben, erfolgte der Aufstoß. Es war gegen zwei Uhr nach Mitternacht. Ferell hatte die Gefahr erkannt, in der wir schwebten und sich blitzschnell an einem Seil des Ballons in die Höhe gezogen, wodurch er unverletzt blieb. Es trifft nicht zu, dass er mir zugerufen habe, mich auch hochzuziehen. Mit welcher Wucht der Ballon aufgeschlagen ist, beweist die schwere Verwundung meiner Beine und der Umstand, dass ich mit dem unteren Teil des Körpers in der Gondel, die auf die Seite gefallen war, hängenblieb, doch mit dem Oberkörper im Grase lag, so dass mein
Anzug nun voll Schmutzflecken ist.

 Bei meinen maßlosen Schmerzen bat ich Ferell, mir doch Hilfe zu verschaffen, der jedoch erwiderte, die Sache sei nicht so schlimm. Er entleerte auch nicht vollends
den Ballon, legte sich vielmehr in meiner Nähe ins Gras und schlief bis zum Morgengrauen. Gegen fünf Uhr fand mich ein Mann, der meine Klagen gehört hatte, gänzlich hilflos auf der Seite liegen, schnitt die Schuhe von meinen fürchterlich blutenden Füßen, holte einen Wagen herbei und sorgte dafür, dass ich ins Süchtelner Krankenhaus gebracht wurde, wo mir geistlicher und ärztlicher Beistand zuteil wurde. Wenige Stunden später sprach Ferell im Krankenhaus vor und ließ sich durch die Schwester Oberin von meinem Geld 15 Mark aushändigen. Es wurde ihm aufgetragen, gleich nach der Ankunft in Köln meine Angehörigen zu verständigen und dass frische Leibwäsche an mich gesandt werde. Ferell hat dies nicht getan, vielmehr haben meine Angehörigen erst am Nachmittag durch ein Telegramm des behandelnden Arztes Kenntnis von dem Unglück erhalten und erfahren, dass mein Leben bedroht sei.“

 Das unkameradschaftliche Verhalten des Ballonführers Ferell wurde bald auch in Köln bekannt. Um sich zu rechtfertigen, veröffentlichte er einen Bericht im „Kölner Tageblatt“, worin er manches anders als Kleesch darstellte. Zunächst bestritt er, eine volle Flasche Kognak mitgenommen zu haben. Es sei lediglich ein Zehntel Liter gewesen, davon er während der Fahrt überhaupt nicht getrunken habe. Ebensowenig habe er unterwegs geschlafen, aber sich ständig mit der Führung des Ballons beschäftigt. Die Folgen des Absturzes seien allein von dem verunglückten Kleesch selbstverschuldet worden. Er habe früher immer so getan, als sei er mit dem Ballonfahren durchaus vertraut und habe deshalb wissen müssen, dass es notwendig sei, bei allen Landungen sich an den Stricken des Ballons emporzuziehen.

 In jener unbekannten Gegend habe er während der Nacht niemand, der Hilfe zu leisten vermochte, finden können und deswegen bis zum Morgen bei dem Ballon ausharren müssen. Durch mancherlei Verzögerungen sei er erst nachmittags um 6 Uhr in Köln wieder eingetroffen und dann nicht mehr in der Lage gewesen, die Angehörigen des Kleesch zu benachrichtigen. Die in Frage stehenden 15 Mark habe er benötigt, um die Ballonhülle und den Korb nach Köln zurückschaffen zu lassen.

 Wie in Wahrheit alles sich zugetragen haben mag, blieb ein Geheimnis, denn Winand Kleesch, der unter Beachtung der größten Vorsicht nach Köln gebracht worden war, verschied dort nach wochenlangem Krankenlager an den Folgen seiner Verletzungen.
An seiner Bahre trauerten seine Witwe und acht Kinder.

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